| Presseinformation Nr. 168 / 2019

Tollwut- und Schnupfenviren helfen Neurowissenschaften

Ein „entschärftes“ Tollwutvirus hilft Göttinger Forschenden des Sonderforschungsbereichs 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“: gehirnweite Vernetzung von molekular definierten Nervenzellen wird sichtbar. Forschungsergebnisse veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Cell Reports“.

Prof. Dr. Jochen Staiger, Direktor Institut für Neuroanatomie, UMG (hinten), und Doktorand Georg Hafner. Foto: Pavel Truschow

(umg) Voraussetzung für Verhalten eines Organismus ist eine stark vernetzte Kommunikation zwischen verschiedenen Funktionsbereichen des Gehirns, in Form von Nervenzellen und ihren Synapsen. Unterschiedliche Areale des Gehirns spielen eine Rolle, von denen jedes für eine bestimmte Funktion wesentlich ist: In der Großhirnrinde zum Beispiel sind höhere kognitive Funktionen, wie Sinneswahrnehmung und Entscheidungsfindung, lokalisiert. Das Kleinhirn steuert Bewegung und im Hippocampus entstehen Erinnerungen. Alle diese Areale sind stark miteinander in Form von spezifischen Schaltkreisen verbunden.

Wie ist ein bestimmter Nervenzelltyp im für die Verarbeitung von Tast- und Berührungsreizen zuständigen Bereich der Großhirnrinde (dem sog. somatosensorischen Kortex) mit anderen Arealen des Gehirns und Zelltypen verbunden? Mit dieser Frage haben sich Göttinger Forscher*innen um Prof. Dr. Jochen Staiger, Direktor des Instituts für Neuroanatomie an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ (Sprecher: Prof. Dr. Tobias Moser) befasst. In ihrer jüngsten Publikation stellen die Göttinger Forscher eine von ihnen weiterentwickelte Untersuchungsmethode vor. Sie nutzt die besonderen Eigenschaften von Tollwut- und schnupfenartigen Viren so, dass sich synaptische Verschaltungen gehirnweit für spezifische Nervenzelltypen analysieren lassen. Für einen Nervenzelltyp, der bei neuronalen Erkrankungen, wie Schizophrenie, Autismus oder Alzheimer, eine zentrale Rolle spielt, konnten die Forscher*innen so einen genauen Atlas der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen erstellen. Die Forschungsergebnisse sind im September veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Cell Reports“.

Originalarbeit: Mapping Brain-Wide Afferent Inputs of Parvalbumin-Expressing GABAergic Neurons in Barrel Cortex Reveals Local and Long-Range Circuit Motifs. Georg Hafner, Mirko Witte, Julien Guy, Nidhi Subhashini, Lief E. Fenno, Charu Ramakrishnan, Yoon Seok Kim, Karl Deisseroth, Edward M. Callaway, Martina Oberhuber, Karl-Klaus Conzelmann, and Jochen F. Staiger. Cell Reports, Volume 28, Issue 13, 24 September 2019, Pages 3450-3461.e8. doi.org/10.1016/j.celrep.2019.08.064

DIE UNTERSUCHUNGSMETHODE: VIREN ALS HELFER

Das Team um Prof. Staiger nutzte für seine Untersuchungen eine Methode, die es erlaubt, scheinbare Feinde des Menschen zu Helfern der Wissenschaft molekular umzuprogrammieren: Viren. Die hoch entwickelten Infektionsmaschinen sind darauf spezialisiert, Zellen zu befallen und sich zu verbreiten. Besonders das Tollwutvirus ist berüchtigt für seine Verbreitung in Nervenzellen. Genau diese Eigenschaft macht es zum idealen Werkzeug, um Nervenzellverbindungen aufzudecken. Gezielte Veränderungen im genetischen Material des Tollwutvirus machen es ihm unmöglich, menschliche Zellen zu infizieren, und veranlassen es, grün fluoreszierende Proteine zu bilden. Dieses zahme Tollwutvirus braucht allerdings zusätzlich noch zwei Helferviren, die ihm in der Ziel-Nervenzelle eine molekulare Tür öffnen. Das Tollwutvirus wird daher mit Adeno-assoziierten (schnupfenartigen) Viren kombiniert. Von einer sogenannten „Starterzelle“ springt das Tollwutvirus zu den verbundenen Nervenzellen und färbt sie intensiv grün. Die räumlich stark eingeschränkte Injektion von Helferviren verhindert, dass das Tollwutvirus sich weiterverbreitet. So werden nur die direkt mit der Starterzelle verknüpften Nervenzellen sichtbar.

Zwar gibt es dieses System schon seit über zehn Jahren. Die Göttinger Forscher*innen haben es nun gemeinsam mit Kooperationspartnern aus München, Stanford und San Diego präzisiert und so verfeinert, dass die Starterzellen viel eindeutiger ausgesucht werden können. Damit gelingt es jetzt, die gehirnweiten Verbindungen von sehr genau definierten Zelltypen zu visualisieren. Angewandt in der Maus als Modellorganismus kann so ein genauer Atlas der synaptischen Verbindungen erstellt werden.

FORSCHUNGSERGEBNISSE IM DETAIL

Mit Hilfe der modifizierten Methode ist es den Göttinger Forscher*innen gelungen, einen genauen Atlas der synaptischen Verbindungen für inhibitorische, Parvalbumin-positive Nervenzellen zu erstellen. Dieser Zelltyp spielt in mehreren neuronalen Erkrankungen, wie Schizophrenie, Autismus oder Alzheimer, eine zentrale Rolle. Im sogenannten somatosensorischen Kortex, dem für die zentrale Verarbeitung von Tast- und Berührungsreizen zuständigen Teil der Großhirnrinde, erhielten diese Zellen Eingänge von sehr vielen anderen Arealen aus dem ganzen Gehirn, besonders viele aber von anderen sensorischen Arealen.

„Wir gehen davon aus, dass Parvalbumin-Zellen wichtig sind für die Integration von sensorischer Information aus mehreren Sinnesmodalitäten. Wir waren vor allem davon überrascht, wie stark und in welcher Weise der visuelle Kortex mit dem somatosensorischen Kortex verbunden ist“, sagt Prof. Jochen Staiger, Senior-Autor der Publikation. Bestimmte Zelltypen integrieren schon früh Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen. Diese Interaktion ist vermutlich zentral, um ein ganzheitliches Bild der Umwelt wahrzunehmen, und nicht jeden einzelnen Sinn isoliert zu bewerten. „Es ist faszinierend, dass mit wenigen Nanolitern einer Viruslösung die verschiedensten Zelltypen im gesamten Gehirn nachgewiesen werden können und dabei sogar die feinsten strukturellen Details der Nervenzellen sichtbar werden“, sagt Georg Hafner, Doktorand am Institut für Neuroanatomie der UMG und Erst-Autor der Publikation. „Diese Studie ist ein gutes Beispiel dafür, dass uns die Vernetzung von Wissenschaftsdisziplinen, wie Neuroanatomie und Virologie, neue Erkenntnisse über die synaptische Verschaltung von Nervenzellen bringen kann.“

WEITERE INFORMATIONEN:
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Institut für Neuroanatomie
Prof. Dr. Jochen Staiger
Telefon 0551 / 39-7051
jochen.staiger(at)med.uni-goettingen.de
Kreuzbergring 36, 37073 Göttingen